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Zwischen Umsturzphantasie und Vaterunser – die Corona-Demos in Berlin


Einen Tag nach den Demos in Berlin wird heftig diskutiert und gestritten. Der „Sturm von Rechtsextremisten“ auf den Bundestag dominiert die Berichterstattung. Kritik von allen Seiten. Man hätte das verbieten müssen oder mit Wasserwerfern beenden, sagen die einen. Schließlich sei das alles vorhersehbar gewesen. Man hätte den überwiegend friedlichen und berechtigten Protest tausender anderer Bürgerinnen und Bürger einfach ausgeblendet und ignoriert, monieren die anderen.


Geschätzt 38.000 Menschen gingen in Berlin gestern auf die Straße, darunter auch gut 3.000 Rechtsextremisten und Reichsbürger. Vermeintlich geeint von ihrer Kritik an der Corona-Politik der Bundesregierung. Oder durch den Kampf gegen eine allmächtige Corona-Diktatur, in welcher nicht nur der vorgeschriebene Mund-Nasen-Schutz keine Luft zum Atmen mehr lassen würde. Dass es bei der Demonstration gestern zu Verstößen gegen die Auflagen kommen würde, durfte nicht überraschen. So hieß es bereits im Konzept des Hauptanmelders Querdenken 711 Stuttgart: „Wir empfehlen den Verzicht auf Mund-Nase-Bedeckungen“. Dass die Stadt Berlin die Demo verbieten wollte, war folgerichtig. Man darf gegen Gesetze oder Regelungen demonstrieren, das ist ein Grundrecht. Aber dieses Recht entbindet nicht von der Einhaltung dieser Regeln. Wenn entsprechende Verstöße „mit Ansage“ zu erwarten sind, und damit eine gesundheitliche Gefährdung anderer einhergeht, muss man darauf reagieren. Dass die Gerichte dies anders bewertet haben, und der Versammlungsfreiheit einen höheren Stellenwert einräumten, beweist, dass unser demokratisches System mit seinen unabhängigen Gerichten funktioniert. Allein das würde den Vorwurf einer herrschenden Diktatur bereits widerlegen.


Ja, diese Menschen durften gegen den Mund-Nasen-Schutz demonstrieren, auch gegen Abstandsgebote und andere Corona-bedingte Einschränkungen. DAS ist ihr Grundrecht. Und dennoch müssen sie bei der Ausübung desselben den MNS tragen und die Abstände einhalten. DAS ist geltendes Recht. Und wenn sie dagegen verstoßen, kann und muss das sanktioniert werden. Dann wird auch eine von Gerichten zugelassene Demonstration am Ende aufgelöst. Das ist keine Diktatur, sondern Ergebnis der Ignoranz der Betroffenen. Ich kann dagegen demonstrieren, dass innerorts nur 50 km/h erlaubt sind. Das ist mein Recht. Wenn ich dann aber mit Tempo 70 geblitzt werde und mein Knöllchen bekomme, dann ist das meine Dummheit – nicht Ausdruck eines diktatorischen Systems.


Die Demos waren erlaubt, am Ende weit über eintausend angemeldet. Und dann tummelte sich auf den Straßen Berlins eine wüste Gemengelage aus real verunsicherten Bürgern, Corona-Leugnern, Reichsbürgern, Rechtsextremisten, QAnon-Anhängern, Verschwörungstheoretikern, aber auch Hippies, gläubigen Christen bis hin zu Hare-Krishna-Anhängern. Es wurde gesungen, das Vaterunser gebetet und getanzt. Es wurden aber auch mit Flaschen und Steinen geworfen, Barrikaden errichtet und angezündet oder Absperrungen durchbrochen und mit der Polizei gerangelt. Stellenweise wurden Mindestabstände eingehalten, stellenweise nicht. Vereinzelt wurde der Mund-Nasen-Schutz getragen, zumeist nicht. Viele hatten auch gar keinen mitgeführt. Meistens verlief der Protest friedlich – aber nicht überall. Stellenweise traten Rechtsextremisten und Reichsbürger massiert auf, wie vor der russischen Botschaft. Stellenweise nur vereinzelt. Sichtbar waren sie in jedem Fall.


Das breite Spektrum der Demonstranten hätte den Eindruck entstehen lassen können, hier demonstriere „das Volk“. Und dennoch handelt es sich dabei um eine – wenngleich laute – Minderheit. 38.000 Menschen aus ganz Deutschland. Das ist nicht DAS Volk. Zumal eine große Mehrheit von 59 Prozent der Bevölkerung die Corona-Maßnahmen als angemessen betrachtet. 28 Prozent gehen sie sogar nicht weit genug. Lediglich 11 Prozent sehen sie als übertrieben an.


So hatte man an vielen Stellen auch den Eindruck, dass es gar nicht um Corona gegangen ist. Die einen forderten einen Friedensvertrag mit Russland. Andere machten Werbung für Trump. Am Ende sollte irgendeiner, ob Trump oder Putin ist egal, einfach die Deutschen von ihrer Regierung befreien. „Merkel muss weg!“, skandierten dann schon zehnjährige Mädels. Frieden und Freiheit forderten die einen, Maske weg die anderen. Mancher freute sich, dass er seine „Eier wiedergefunden“ habe. Herzlichen Glückwunsch! Dazwischen Warnungen vor Chemtrails, Impfungen oder 5G-Masten. Und immer wieder die Forderung nach dem Austritt aus NATO und EU. Der Abwicklung der BRD. Und der Traum vom Umsturz.

Nicht umsonst haben NPD, AfD, Junge Alternative, Dritter Weg und zahlreiche andere rechtsgerichtete Verbindungen nach Berlin mobilisiert. Sie hatten den Protest der Mehrzahl der Demonstrierenden von Anfang an unterminiert. Diese haben wiederum die Augen vor der Omnipräsenz der Rechtsextremen verschlossen und sich damit willentlich oder billigend instrumentalisieren lassen.


Dank gilt den Einsatzkräften der Polizei, welche sich nicht haben provozieren lassen. Die Populisten und Extremisten haben auf Bilder gelauert, welche zeigen, dass Polizisten mit massivem Zwang unter Einsatz von Schlagstöcken und Wasserwerfern in die Menge wirken. Genau diese Bilder hätten die Mär der Diktatur gegen das eigene Volk transportiert. Die Polizei hat stattdessen reagiert. Es gab 300 Festnahmen, darunter auch ein „Autor veganer Kochbücher“. Aber sie hat sich nicht provozieren lassen. Besonderer Dank gilt den drei Polizisten, welche durchgebrochene Demonstranten am Zutritt in den Bundestag gehindert haben. Auch hier hat man besonnen und angemessen reagiert. – Die Bilder waren dennoch schlimm genug.


Letzen Endes geht es immer um die Bilder und die Deutungshoheit. Von Atatürk stammt das Zitat: „Der Sieg ist für diejenigen, die sagen, der Sieg gehört mir!“. Genau das werden diejenigen für sich beanspruchen, die es auf die Stufen des Reichstages geschafft haben. Ein „Sturm auf den Bundestag“ oder gar eine Erstürmung war es indes nicht. Es waren, wie Bundespräsident Steinmeier sagt, „Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag“. Die Rechten haben sich daran berauscht, dass sie es auf die Stufen geschafft haben. Und waren ansonsten ratlos. Es war kein Sturm, nicht mal ein Wind. Wenn die Medien heute von „Sturm auf den Bundestag“ schreiben oder der SPIEGEL mit der Empörung der Politiker titelt, ist es genau die Überhöhung des eigenen Tuns, welche die extreme Rechte vorgibt. Daran sollte man sich nicht beteiligen.


Die Aktion hat vielmehr schmerzlich vor das öffentliche Auge geführt, was man nach Kassel, Hanau und Halle schon längst hätte wissen können: dass es eine aggressive und sich immer weiter radikalisierende extreme Rechte im Land gibt. Und, dass sie über bestimmte Themen wie Zuwanderung (bei PEGIDA) und jetzt Corona immer weiter in die Mitte der Gesellschaft vordringen kann. Dies muss für alle Demokratinnen und Demokraten Anlass zu Sorge sein und zu einem entschlosseneren Handeln führen. PS: Herzlichen Dank an Thomas Witzgall für die Genehmigung zur Verwendung des Beitragsbildes – und für seine hervorragende Arbeit.

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