Die Europawahl vom 09. Juni 2024 wird vermutlich lange in Erinnerung bleiben, auch wenn sich die erste Aufregung über das starke Abschneiden der politischen Populisten gelegt hat. Die Wahl stellt mit großer Wahrscheinlichkeit eine Zäsur dar, um nicht den in letzter Zeit recht abgenutzten Begriff der „Zeitenwende“ zu bemühen.
In Belgien sind Vlaams Belang und Nieuw-Vlaamse Alliantie, beides separatistische und europaskeptische Regionalparteien, die eine rechtsextrem, die andere rechtskonservativ mit 14,5 bzw. 13,97 Prozent als stärkste Parteien aus der Wahl hervorgegangen. In Italien ist die postfaschistische Fratelli d´Italia um Präsidentin Giorgia Meloni mit 28,77 Prozent stärkste Kraft. Die niederländische Partij voor de Vrijheid des Rechtspopulisten Geert Wilders konnte als zweitstärkste Kraft mit 17,7 Prozent sechs Mandate erringen. Nach der Umverteilung der britischen Sitze nach dem Brexit war die Partei nur mit einem Abgeordneten vertreten. In Luxemburg ist der rechtskonservativen Alternative Demokratische Reformpartei mit 11,8 Prozent der Sprung in das Europaparlament gelungen. In Österreich hat die Freiheitliche Partei Österreichs mit 25,7 Prozent sich knapp vor den Konservativen und Sozialdemokraten durchsetzen können. In Polen hat die Prawo i Sprawiedliwość (PiS) zwar erstmals verloren, kommt aber als zweitstärkste Kraft immer noch auf 36,16 Prozent der Stimmen. Die rechtspopulistische Chega in Portugal, welche das erste Mal bei einer Europawahl angetreten ist, konnte 9,81 Prozent auf sich vereinen. In Slowenien hat die Slovenska demokratska stranka um den rechts-nationalen Ex-Präsidenten Jansa 30,65 Prozent der Stimmen erhalten und ging als stärkste Kraft aus der Wahl hervor. Die rechtsextreme spanische Vox konnte auf 9,62 Prozent zulegen und wird künftig sechs statt vier Abgeordnete stellen. Und in Ungarn konnte die Fidesz-Partei Viktor Orbans trotz größerer Verluste mit 44,79 Prozent der Stimmen den ersten Platz verteidigen.
In der Gesamtschau ist Europa nach rechts gerückt. Auch wenn die Fraktionen der Europäischen Volkspartei und die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, also die Christ- und Sozialdemokraten, mit 25,83 bzw. 18,7 Prozent die größten der Fraktionen stellen, wird diese Wahl Europa verändern. Das liegt vor allem an zwei Ländern, die in der obenstehenden Übersicht nicht aufgeführt, aber für die EU von größter Bedeutung sind – Frankreich und Deutschland.
In Frankreich ist es Marine Le Pen mit ihrer rechtspopulistischen Partei Rassemblement National (RN) gelungen, mit etwa 31,4 Prozent deutlich stärkste Kraft zu werden. Das Bündnis von Emmanuel Macron Besoin d´Europe ist mit 14,6 Prozent deutlich abgeschlagen auf Platz zwei. Der französische Präsident hat noch am Wahlsonntag angekündigt, am 30. Juni Neuwahlen der französischen Nationalversammlung durchzuführen. Sein Kalkül: Wenn der RN nach einem Wahlsieg erstmal(s) Verantwortung übernehmen müsste, würde er sich schnell entzaubern. Es ist ein Spiel mit dem Feuer! Le Pen erklärte, sie und ihre Partei seien bereit.
Mit dieser Entscheidung setzt Macron alles auf eine Karte – innenpolitisch, aber auch für die Europäische Union. Sollte Le Pen die Wahl gewinnen, müsste Macron einen RN-Premierminister ernennen. Damit wäre das Land im inneren zerstritten, nach außen gelähmt. Gleiches gilt, wenn die Wahl für keines der Lager eine klare Mehrheit ergeben würde. Das wäre für die deutsch-französische Zusammenarbeit, welche immer als Motor und Antrieb Europas gesehen wurde, eine neue, zusätzliche Belastung. Zumal auch die Regierung um Olaf Scholz aktuell, zumindest medial, noch stärker unter Druck gerät.
Allen Skandalen zum Trotz hat die Alternative für Deutschland mit 15,9 Prozent bei der Europawahl deutlich hinzugewinnen können. Da wirkt auch der Hinweis auf die zwischenzeitlichen Spitzenwerte bei über 20 Prozent und die seitdem erfolgten Verluste eher wie beruhigende Schönfärberei. Besonders besorgniserregend: Die Alternative ist in den neuen Bundesländern nahezu flächendeckend stärkste Kraft. Bei den Arbeiter:innen liegt sie mit 34 Prozent klar vor der Union (24 Prozent) und den Sozialdemokraten mit 12 Prozent. Und bei den 16- bis 24-jährigen teilen sich AfD und Union mit 17 Prozent den ersten Platz.
Die Spionage- und Bestechungsvorwürfe um das Spitzenduo Krah und Bystron scheinen den Wählenden weitestgehend egal gewesen zu sein. Die Verurteilung von Höcke wegen Volksverhetzung ebenso. Genauso wie die Ermittlungen gegen Halemba und andere. Oder die „Wannsee-Konferenz“ mit ihren „Remigrationsplänen“, die nicht nur unser Gesundheitswesen und die Altenpflege vollends an die Wand fahren würden.
„Unser Land zuerst!“ – so hat die AfD plakatiert. Die Realität sieht eher nach Platz 3 hinter Russland und China aus. Und auch sonst ist die selbst ernannte Alternative eine Partei die von der Ablehnung lebt. Die Tagesordnung im Bundestag? Wird grundsätzlich abgelehnt! Jedes noch so vernünftige Gesetz, wovon die Menschen, die die AfD jetzt überproportional gewählt haben, profitieren würden? Abgelehnt! Egal, ob sozialer Wohnungsbau, mehr Geld für Schulen, etc. Die schweren Unwetter im Saarland und im Süden Deutschlands haben natürlich nichts mit dem Klimawandel zu tun. Dieser wird verneint. Wie so vieles. Das haben die AfD und die Populisten Europas gemein.
Sie wirken wie der Mephistopheles Europas:
Wir sind „der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
Drum besser wär´s, dass nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,“
Unser „eigentliches Element.“
Sie verneinen, sie negieren, sie blockieren. Sie schüren Stimmungen, Neid, Hass und Missgunst. Für sie ist „Wut und Zorn kein Selbstzweck“, wie es der AfD-Politiker Dr. Marc Jongen bereits 2016 im Süddeutsche-Interview geäußert hat. Sie wollen das Haus Europa in Brand stecken und schleifen. Gemeinsam mit ihren Gesinnungsgenossen. Dabei liefern sie keine Alternativen, keine Lösungsansätze. Sie ergießen sich in einem Bashing gegen die etablierten Parteien, die Medien und alles, was eine moderne Gesellschaft ausmacht. Sie sind eine Anti-68er-Partei, die das Rad der Zeit zurückdrehen wollen. Die gegen jede Veränderung und Weiterentwicklung sind.
Dies ist in Krisenzeiten populär. Viele Menschen sind verständlicherweise und zu Recht überfordert. Sind krisen- und kriegsmüde. Auch wenn der Krieg nur zur Nachrichtenzeit über den Bildschirm flimmert. Man müsse doch nur verhandeln oder aufhören, Waffen zu liefern. Und schon wäre der Ukrainekrieg beendet, so die einfache Lösung der Populisten. Was aber wenn Putin das gar nicht möchte? Und worüber soll verhandelt werden? Soll die Ukraine Teile ihres Landes, ihrer Souveränität einfach aufgeben? Wir haben leicht reden, es ist ja nicht unser Land, nicht unsere Heimat. Meine Großeltern, die gegen Ende des zwölfjährigen Reichs vertrieben wurden und fliehen mussten, würden das vermutlich differenzierter sehen. Leider leben sie nicht mehr.
Und gäbe es dann wirklich Frieden?
1938 hat man im Münchner Abkommen die Abtretung des Sudetengebietes an das Deutsche Reich vereinbart. Den Machthunger des österreichischen Gefreiten konnte dies nicht stillen, den Krieg nicht verhindern. Wäre das in der Ukraine heute anders? Putin spricht der Ukraine generell das Existenzrecht ab. Dies hat er in mehreren Reden getan. Man kann es in seinem 2021, also noch vor dem Beginn des Krieges, erschienenen Essay „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ auf Russisch, Ukrainisch und Englisch nachlesen.
Es bliebe zu befürchten, dass er mit eisernem Besen durch die dann annektierten Gebiete kehren würde, gegen die ukrainische Intelligenz, gegen die ukrainische Kultur. Die Folge wäre eine neue Flüchtlingsbewegung in Richtung Westeuropa, im schlimmsten Fall mit mehreren Millionen Menschen. Dies würde den Rahmen der Hilfsbreitschaft und die Fähigkeit zur Hilfe quantitativ sprengen und den ohnehin belasteten Zusammenhalt in unseren Gesellschaften nachhaltig stören – oder gar zerstören.
„Denn alles, was entsteht, | Ist wert, dass es zugrunde geht;“, das scheint das Motto der Rechtspopulisten zu sein. Deshalb setzen sie auf Putin, deshalb hoffen sie auf die Wiederwahl Trumps. Sie verachten eine moderne und offene Gesellschaft – und lehnen am Ende unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung ab. In Deutschland, wie im Rest Europas.
Die Wahl am 09. Juni 2024 ist eine Zäsur. Es drohen stürmische, unruhige Zeiten. Und so bleibt nur zu hoffen, dass die Menschen erkennen, was „also des Pudels [wahrer] Kern“ ist.
Und es bleibt zu wünschen, dass auch die Konservativen sich dieser Gefahr bewusst werden. Wir brauchen einen Schulterschluss aller demokratischer Kräfte. Zumindest hierzulande ist jedoch erstmal weiter „Ampel-Bashing“ angesagt.
Und der Pudel lacht mit mephistophelischer Fratze.
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