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„Einigkeit und Recht und Freiheit“ oder „Wohlstandsdemokratie“? – Deutschland in der Krise

Aktualisiert: 21. Nov. 2022



Vor wenigen Tagen erst haben wir den „Tag der Deutschen Einheit“ begangen. Vielerorts wur­de dabei unsere Nationalhymne gespielt oder gesungen: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland! Danach lasst uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand! – Die Hymne zu Haydns Thema aus dem Kaiserquartett, getragen und würdevoll in G-Dur, enthält sowohl eine Zielformulierung als auch einen Appell an unsere Gesellschaft.


„In der Krise beweist sich der Charakter,“ sagte einmal Kanzler Schmidt. Es stimmt: Gerade in Krisen­zeiten werden Werte und Auftrag auf den Prüfstand gestellt. Aktuell sind es die En­er­gie­krise und die daraus resultierende Inflation. Beides verursacht durch den russischen An­griffs­krieg auf die Ukraine – und die Reaktionen des Westens. Nach der Finanzkrise 2008, der Eurokrise 2010, welche sich wie­de­rum aus einer Staatschulden-, Banken- und Wirtschaftskrise zusammengesetzt hat, der sog. Flücht­lings­krise 2015/2016 und der Corona-Pandemie ab 2019, stehen wir nun vor neuen, vielleicht noch gra­vie­ren­deren, Herausforderungen.


Alle bisherigen Krisen haben wir weitestgehend unbeschadet überstanden – zumindest deutlich besser als viele andere (europäische) Nationen. Unsere Volkswirtschaft konnte sich schnell von den erfolgten Einbrüchen erholen. Diesmal ist die Befürchtung Vieler, dass es anders sein wird. Angesichts explo­die­ren­der Energiekosten und enorm steigender Abschlagszahlungen ist die Verunsicherung groß – die Sor­gen und die Ängste der Bevölkerung wachsen nahezu proportional mit der allgemeinen Preisent­wick­lung. Die Berichterstattung in vielen (Boulevard-)Medien trägt in diesem Zusammenhang nicht zur Beruhigung bei.


Die Menschen blicken pessimistisch in die Zukunft. So sehen im jüngsten DeutschlandTrend vier von fünf Deutschen die aktuelle wirtschaftliche Lage als „weniger gut“ bzw. „sehr schlecht“ an. Mehr als die Hälfte (53%) geht davon aus, dass die Lage sich in einem Jahr noch einmal „schlechter als heute“ dar­stellen wird. Verantwortlich dafür machen viele Bürger die Bundesregierung, deren Zu­stim­mungs­wer­te, vor allem der SPD, rapide gesunken sind. Am stärksten profitiert davon die AfD.


Dabei hat die Regierung Handlungsfähigkeit bewiesen, hat in kurzer Zeit, unter sich ständig ändernden Rahmenbedingungen, insgesamt drei milliar­den­schwe­re Entlastungspakete beschlossen. Ja, der Weg dahin war holprig, die Kommunikation verbesserungsfähig. Aber am Ende zählt das Ergebnis: Bis zu 295 Mrd. Euro nimmt der Staat zusätzlich in die Hand, um den Menschen und den Unternehmen in dieser Krise unter die Arme zu greifen.


Es ist ein beeindruckendes Bündel an Einzelmaßnahmen: Kindersofortzuschlag, 9-Euro-Ticket, Tank­ra­batt, höhere Pendlerpauschale und höherer Arbeit­neh­merpauschbetrag, Erhöhung des Kindergeldes, Schaf­fung der Möglichkeit steuerfreier Einmal­zah­lungen an Beschäftigte, Energie­preis­pauschale auch für Rentner und Studierende, Verbesserungen beim BAföG, verlängerte Kurz­ar­bei­ter­regelung, Aus­we­itung des Bezugskreises für Wohngeld, Schaffung des Bürgergeldes mit höheren Leis­tungen, Anheben des Mindestlohns auf 12 Euro, Senken der Mehr­wert­steuer auf Gas von 19 auf sieben Prozent. Um nur ein paar Punkte zu nennen. Verhandelt wird aktuell zwischen Bund und Ländern zudem die Ausgestaltung der Strom- und Gaspreisbremse und der Heiz­kos­ten­zu­schuss für Wohn­geld­empfänger. Auf europäischer Ebene soll eine Besteuerung der Übergewinne von Energiekonzernen erfolgen. Gleich­zeitig wurden die Deutschlands Gasspeicher auf zuletzt 93,3 Prozent gefüllt, womit das gesteckte Ziel übertroffen wurde.


Dennoch sind der Ärger und die Wut in Teilen der Bevölkerung groß. Wenn man dem Regierungs­han­deln mit der Erwartung entgegentritt, dass der Staat alle Belastungen und Unbill auffangen muss, dann ist diese Reaktion unvermeidbar. Eine solche Erwartung ist schlicht nicht erfüllbar – auch nicht in einer so starken Volkswirtschaft wie der unseren. Es wird nur möglich sein, für möglichst viele Menschen die schlimmsten Härten abzumildern. Dabei wird es am Ende Menschen geben, die über Gebühr belastet werden.


Egal, welche Maßnahme ergriffen wurde, sie wurde umgehend lautstark kritisiert: 9-Euro-Ticket – da habe ich auf dem flachen Land nichts davon. 300 Euro Energieprämie – muss ich versteuern und reicht hinten und vorne nicht. 12 Euro Mindestlohn – frisst die Inflation auf. Kindergelderhöhung – ich habe keine Kinder. Höhere Pendlerpauschale – fehlt mir ein Kilometer, dass ich sie bekomme. Und am Ende ist eh alles zu wenig.


Die grundsätzliche Kritik an politischen Entscheidungen ist nicht neu. Was mir hingegen Sorge be­reitet, ist die damit einhergehende wachsende Ablehnung unseres demokratischen Systems insge­samt. So gaben im DeutschlandTrend47 Prozent der Westdeutschen und 63 (!) Prozent der Ost­deut­schen an, dass sie mit der Art und Weise, wie Demokratie funktioniert, „weniger oder gar nicht zu­frie­den“ seien.


Dass die Zustimmung zu unserer Demokratie mit der wirtschaftlichen Entwicklung korreliert, ist be­kannt. Das Ausmaß, wie diese nun aktuell jedoch regelrecht einbricht, muss allerdings erschrecken. Demokratie – ja, aber nur solange sie als Garant für Wohlstand und Wachstum funk­tio­niert?


Wer so denkt, hat nicht erkannt, dass Demokratie als solches einen Wert darstellt. Demokratie ist mehr als und nicht zu reduzieren auf die Formel „freie Wahlen plus Wirtschaftswachstum.“ Letzteres kann man auch in Autokratien oder autoritären Einparteiensystemen erzielen – vielleicht sogar einfacher. China hat deutliche Wachstumsraten, gleichzeitig werden dort allerdings Minderheiten interniert, die Medien zensiert und das Internet gesperrt. In Russland reicht aktuell allein schon das Hochhalten eines weißen Blattes oder die Verwendung des Begriffes „Krieg“, um von den Häschern des Staates zu­sam­men­geschlagen oder inhaftiert zu werden.


Auch bei uns gibt es einen wachsenden Anteil an Menschen, der von einer vermeintlichen Diktatur spricht, in der man seine Meinung nicht mehr sagen oder seine Grundrechte ausüben dürfe. Man lebe quasi in einer „DDR 2.0“. In dieser, unseren „Diktatur“ kann und darf man – ggf. durch unabhängige (!) Gerichte geprüft und zugelassen – auf die Straße gehen und dagegen demonstrieren, dass man sich ja nicht mehr versammeln dürfe. Man kann sich – in den Talkshows sogar vor Millionenpublikum – darüber auslassen, dass man seine Meinung nicht mehr frei äußern könne.


Diese Menschen verwechseln zu oft das Recht auf Meinungsäußerung mit einem vermeintlichen Recht auf Zustimmung. In unserem Land darf jeder seine Meinung sagen. Aber er muss dann eben auch mit Widerspruch oder Kritik rechnen. Zugleich werfen sie die Frage nach den Alternativen auf. Was wäre denn die Alternative zu unserem demokratischen System? Sollten wir uns am Ende in Richtung einer „Wahl­autokratie“ entwickeln, wie das Europäische Parlament zuletzt Ungarn bezeichnet hat?


Natürlich habe auch ich Sorge vor der weiteren Entwicklung, vor den Verwerfungen, welche ein harter Winter möglicherweise in der jetzigen Lage mit sich bringt. Und doch habe ich kein Verständnis für das Verhalten mancher „Wohlstandsdemokraten“. Ich frage mich vielmehr, woher diese Hybris kommt, die eigene Meinung als einzig richtige und jede Kritik als Auswurf einer vermeintlichen Diktatur anzu­se­hen. Woher kommt der Glaube, dass in einem anderen, vielleicht autokratischen, System genau das umgesetzt werden würde, was diejenigen, welche sich von unserer Demokratie verabschieden, selbst für richtig erachten? Dass genau sie am Ende diejenigen wären, die dann Entscheidungen träfen?


Ich verstehe, dass viele Menschen aktuell besorgt, enttäuscht oder verärgert sind. Diese Unzu­friedenheit wäre wohl geringer, wenn die Menschen nicht Angst haben müssten, selbst „unters Rad“ zu kommen. Es muss in diesem Zusammenhang nachdenklich stimmen, wenn die privaten Vermögen in Deutschland mit rund 7.600 Milliarden Euro sich auf Rekordniveau bewegen – die untere Hälfte (!) der Bevölkerung jedoch nur über 1,3 Prozent davon verfügt, das reichste Prozent jedoch über mehr als ein Drittel. Einheit untereinander, Gelassenheit und Solidarität mit anderen muss man sich erstmal leisten können.


Hier gäbe es viel zu tun. Aber es ist anstrengender, sich in einer Partei zu engagieren, zu versuchen, selbst Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen und die dafür erforderlichen Mehrheiten zu suchen, als pauschal auf die Entscheidungsträger zu schimpfen. Viel verlockender ist es stellenweise, den ein­fa­chen Antworten kompromissloser Populisten zu folgen. Dabei wird nur eines vergessen: „Wer keine Kompromisse machen kann, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen“ (Helmut Schmidt).


Den Anspruch haben die Populisten jedoch gar nicht. Sie wollen Unruhe stiften, Chaos. Sie wollen das System sprengen. Sollten sie am Ende erfolgreich sein, werden viele Menschen erst dann merken, welch hohes Gut unsere Demokratie… gewesen… ist.

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