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„Edel sei der Mensch…?“ – „Am Arsch!“

Aktualisiert: 5. Juli 2023



"Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen,“ so beginnt die 1783 von Goethe verfasste Hymne „Das Göttliche“. Wer kennt das Zitat nicht – zumindest den ersten Satz? Und heute? 240 Jahre nach dem Verfassen dieser Zeilen ist man geneigt, die Aussage in Frage zu stellen. Entschuldigen Sie bitte die in diesem Zusammenhang in der Überschrift gewählte, laut Duden „derbe“, Ausdrucksweise. Es scheint jedoch zum Verzweifeln.


Mein Eindruck ist, dass die Corona-Pandemie mit ihren einhergehenden Einschränkungen uns das Einmaleins des sozialen Miteinanders hat vergessen lassen. Das fängt an vielen Stellen unscheinbar im Kleinen an: beim Einkauf beim Metzger, an der Kasse im Supermarkt oder beim Bäcker. Allzu oft vermisst man hier allein schon einen Gruß, ein „Bitte“, ein „Danke“ oder sonst ein freundliches Wort. Das hingeworfene „Drei Brötchen!“ oder die Beschwerde, warum es denn schon wieder so lange dauert, scheint für viele völlig ausreichende Normalität.


Ähnliches kann man im Straßenverkehr beobachten. Vorausschauendes Fahren und gegenseitige Rücksichtnahme scheinen sich auf dem Rückzug zu befinden. Ober sticht Unter. Mercedes SUV den VW Polo. Lässt man einem anderen den Vorrang, um vielleicht eine unübersichtliche Verkehrssituation aufzulösen, wird vom Fahrer hinter einem gehupt, geschimpft und wild gestikuliert. Gleiches gilt für Rettungskräfte. Diese werden angegriffen, beleidigt oder angefahren, weil sie „im Weg sind“ oder eine Straße sperren oder einfach nur vor Ort sind. Dabei wollen sie anderen, in Not geratenen Menschen, einfach nur helfen.


Zur Perfektion gebracht wird die Pöbelei in den „sozialen“ Netzwerken. Dort wird nicht nur beleidigt, sondern gleich noch gedroht oder gar zu Gewalttaten aufgerufen. Nur, weil es tatsächlich Menschen gibt, die eine andere Meinung vertreten oder weil manche das Recht auf Meinungsäußerung mit einem Recht auf Zustimmung verwechseln. Ersteres steht im Grundgesetz, letzteres ist de facto nicht existent.


Oder man arbeitet sich mit Verve an Äußerlichkeiten ab. Beliebtes Ziel von Hohn, Spott und Hetze ist die Vorsitzende der Grünen, Ricarda Lang. Da gehören Kommentare wie „Früher waren Dick und Doof 2 Personen“, „Kann den Mensch gewordenen Fettklotz nicht sehen und hören!!!“ oder „Mach das Ding da weg!“noch zu den harmloseren Kommentaren. Man muss die Grünen nicht mögen, auch Ricarda Lang nicht, aber man fragt sich schon, welche Kinderstube die Kommentatoren genossen haben. Und wie sie es finden würden, wenn sie nur ansatzweise Gegenstand ähnlicher Anwürfe werden würden.


Auch sonst wird generell gerne über Alles geschimpft und Jeder beleidigt: Die Regierung (egal, welche das aktuell ist) versagt auf ganzer Linie. Alle Politiker sind ohnehin korrupt und/oder dumm. Auf jeden Fall aber unfähig. Und überhaupt, um das Volk kümmere sich ja sowieso keiner mehr. Warum, frage ich mich, engagieren sich dann so wenige Menschen in Parteien? Wo sind alle diejenigen, die es besser wissen, weil ja alles angeblich ganz einfach ist? Egal, ob es um Klimawandel, Inflation, Energiekrise oder Ukraine-Krieg geht. Sollten nicht gerade diese Menschen zeigen, wie es besser ginge? Vermutlich ist es am Ende doch leichter, sich gegenseitig im Netz und bei Demonstrationen als „Kriegstreiber“, „Hetzer“ oder „Putin-Versteher“ zu bezichtigen. Oder in Zeiten der Pandemie als „Querdenker“, „Aluhutträger“ oder „Schlafschaf“. Besser man hält sich raus, übernimmt nicht selbst Verantwortung und übertrumpft sich gegenseitig mit neuen, noch schärferen Beleidigungen, noch bitterer Hetze – und lässt sich von seinesgleichen dafür auch noch feiern.


Oder es verschieben sich die Maßstäbe und Relationen: Fünf Menschen sind in einem U-Boot auf dem Weg zur Titanic als der Kontakt abbricht. Die ganze Welt zeigt sich betroffen. Nachrichtenmeldungen überschlagen sich im Stundentakt. Gleichzeitig ertrinken Hunderte Geflüchtete im Mittelmeer. Das ist uns hingegen egal. Beides ist tragisch. Aber die Art und Weise der Anteilnahme und der Berichterstattung lässt Fragen offen.


„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.“ Wirklich? Man möchte stellenweise schreien!


Und doch soll das gerade gezeichnete Bild keinen Defätismus darstellen. Denn es ist nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht eine Vielzahl an Menschen, vielleicht sogar eine Mehrheit, für die Umgangsformen kein alter Hut sind: Die anderen die Tür aufhalten, den Platz im Bus freimachen, freundlich grüßen oder einem in unserer hektischen Zeit einmal den Vorrang lassen.


Menschen, die sich in ihrem Alltag ehrenamtlich für andere engagieren und einsetzen – und welche unser Miteinander an vielen Stellen erst lebenswert machen. Egal, ob als Schülersprecher, Trainer im Sportverein, Betreuer auf Freizeiten, im kirchlichen Bereich, in kulturellen Einrichtungen, in den Gewerkschaften, bei der Obdachlosenhilfe oder in Beratungsstellen, im Musikverein, als Schöffen oder ehrenamtliche Stadträte, bei den Tafeln, den Feuerwehren oder anderen Rettungs- und Hilfsorganisationen. Rund 40 Prozent der Deutschen ab 14 Jahren engagieren sich im Ehrenamt – das entspricht etwa 29 Millionen Menschen. Das sagt zumindest der letzte „Freiwilligensurvey“ von 2019 aus. Innerhalb von zwanzig Jahren hat sich damit der Anteil sogar um zehn Prozentpunkte erhöht.


Auch finanziell sind viele Menschen bereit, anderen zu helfen. So berichtet der Spendenrat, dass 2022 jeder vierte Mensch in Deutschland durchschnittlich sechsmal an gemeinnützige Organisationen oder Kirchen gespendet hat. Die Spendenhöhe lag dabei im Schnitt bei jeweils rund 40 Euro. Insgesamt haben die Menschen im vergangenen Jahr etwa 5,8 Milliarden Euro gespendet, um zu helfen, zu unterstützen und Gutes zu tun.


Und schließlich gibt es eine Heerschar an Menschen, die sich – allen Widrigkeiten zum Trotz – Tag für Tag in den sozialen Berufen für ihre Mitmenschen engagieren. Die an vielen Stellen mehr leisten als müssten. Die mit ihrem Tun Stützen unserer Gesellschaft sind – egal, ob als Sanitäter, Krankenschwester oder Pflegekraft, als Erzieher oder Kindergärtnerin, als Müll­werker oder Straßenkehrer. Und das für eine Bezahlung, die an vielen Stellen der Verant­wortung und dem Wert ihrer Arbeit nicht gerecht wird.


Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Es bleibt die Frage, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft weiterentwickeln wird. Am Ende haben wir alle gemeinsam genau das in der Hand.


„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.“ Am Ende vielleicht ja doch.

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