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"Die verarschen uns doch!" - Wahrheit und Politik, ein ungleiches Paar?

Aktualisiert: 18. Juli 2023


Die Unzufriedenheit in unserem Land wächst. Viele Menschen sind kriegs- und krisenmüde geworden. Dabei ist es für viele zunächst völlig unerheblich, dass wir nicht selbst Angst haben müssen, dass unser Zuhause bombardiert wird oder dass wir die Krisen insgesamt bis dato verhältnismäßig gut gemeistert haben. Diese Haltung ist verständlich. Nach bzw. angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise, der Corona-Krise, der Energie- und Strompreiskrise, der hohen Inflation und dem Krieg in der Ukraine mit seinen immer gleichen Bildern unnötiger Zerstörung, sinnloser Gewalt und Toten kann man dieser Themen durchaus überdrüssig werden.


In der Folge des Kriegs in der Ukraine sind die Zahlen an Geflüchteten gestiegen, noch über das Niveau von 2015/2016. Und über allem baumelt drohend das Damoklesschwert Klimawandel – an einem immer dünner werdenden Faden. Viele haben das Gefühl, diesen Herausforderungen hilflos gegenüberzustehen. Was kann man als Einzelner schon ausrichten?


Gleichzeitig wachsen der Druck und die Erwartungshaltung auf die Regierung, die Politikerinnen und Politiker, die Entscheidungsträger unserer Gesellschaft. Von diesen erwarten wir Lösungen. Schnell. Einfach. Pragmatisch. Das ist schließlich deren Job. Diesem Anspruch scheinen „die da oben“ jedoch nicht gerecht zu werden. Vielleicht auch gar nicht zu wollen. Und so beschleicht viele das Gefühl, dass uns „die Politik“ nicht ehrlich gegenübertritt. Dass man uns belügt. Der Stammtisch findet hierfür noch ein ganz anderes Vokabular.


Also, alles klar: Die Politiker machen sich die Taschen voll, die Probleme des einfachen Volkes sind ihnen egal und am Ende wird man ohnehin verarscht? Eine wachsende Anzahl an Bürgerinnen und Bürgern würde dieser Aussage wohl sofort uneingeschränkt zustimmen. Das ist einerseits gefährlich. Andererseits ist es so einfach aber dann doch nicht.


Wenn wir Wahrheit und Offenheit einfordern, bedeutet das auch, dass wir die dann getätigten Aussagen a) ertragen müssen und dass wir b) diejenigen, die diese offen aussprechen, dafür nicht bestrafen dürfen.


Denn diese Wahrheiten würden dann je nach Thema beispielsweise lauten: „Wir müssen unsere Lebensweise ändern.“ Oder: „Eine Lösung wird viel Geld kosten.“ Oder – und das dürfte die bitterste aller Wahrheiten sein: „Wir werden unser Wohlstandsniveau nicht halten können und werden lernen müssen, zu teilen.“ Nicht weniger ernüchternd wäre die in manchen Fällen ehrliche Antwort: „Wir haben (im Moment) keine Lösung.“


In einer Konsum- und Wachstumsgesellschaft, die auf ein immer Mehr getrimmt ist, möchte das niemand hören. Wir wollen nicht raus aus unserer Komfortzone. Wir wollen nicht teilen. In einem Land, in welchem das Credo immer lautete, dass es die Kinder einmal besser haben sollen, verschließt man gerne die Augen, dass die Realität inzwischen an vielen Stellen eine andere ist.


Und dennoch verlieren die Aussagen nichts an Wahrheitsgehalt: Angesichts des Ukraine-Krieges haben wir als Westen bislang keine Lösung. Putin will und braucht innenpolitisch einen militärischen Erfolg. Die Ukraine besteht auf der Unverletzlichkeit ihrer Souveränität. Ein friedensschaffender Kompromiss ist auf dieser Basis schwer erkennbar.


Angesichts der anhaltend hohen Flüchtlingszahlen haben wir ebenfalls keine Lösung. Vor allem, weil es auf europäischer Ebene keine Verteilungsmechanismen gibt. Als man diese vor Jahren schaffen wollte, hatten Frankreich und Deutschland dies blockiert. Nun verweigern sich andere Staaten, die befürchten, dass sie mit einer Neuregelung künftig mehr Geflüchtete aufnehmen müssten. Das Schließen von Grenzen ist praktisch kaum umsetzbar und löst die Ursache des Problems auch nicht. Daran ändern auch zunehmend fehlende Unterkünfte bei uns nichts.


Auch angesichts des Klimawandels haben wir keine Lösung. Allein schon, weil wir uns nicht einschrän­ken wollen. Sollen doch erst mal andere anfangen. Da wird allein schon ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen von manchen zum willkürlichen Eingriff des Staates hochstilisiert. Freie Fahrt für freie Bürger – auch wenn man mit Vollgas auf den Abgrund zusteuert.


Und dann darf die Problemlösung nichts kosten. Da ist es egal, ob man das Geld für die Vorsorgung und/oder Integration von Geflüchteten ausgeben will, für Entwicklungshilfe oder für Maßnahmen, die es den Menschen vielleicht ermöglichen, auch künftig in ihren Heimatländern ein einigermaßen wür­di­ges Leben führen zu können. Militärische Hilfen für die Ukraine oder eine bessere Ausrüstung für die Bundeswehr gibt es ebenfalls nicht zum Nulltarif. Und von den sich zunehmend abzeichnenden Folgekosten des Klimawandels durch eine wachsende Zahl an Extremwettereignissen, Dürren und Miss­ernten will ich hier noch gar nicht sprechen. Immer haben wir Angst, selbst übervorteilt zu werden.


Die Welt ist komplex, die Probleme groß und die Antworten darauf unangenehm. Statt uns diesen Herausforderungen zu stellen und die Verantwortlichen darin zu bestärken, Lösungen zu finden, folgen viele lieber den Populisten. Mutieren stattdessen zum Wutbürger, der lautstark skandiert „Die ver­arschen uns doch!“ und schieben jedwede Verantwortung von sich. Oder wir bestrafen jene, die diese Wahrheiten zumindest im Ansatz äußern. Die vielleicht schon vor einer Wahl unpopuläre Maßnahmen ankündigen. Als Dank für diese Ehrlichkeit wählen wir andere, wählen Protest oder flüchten in die be­rühmte Wahlenthaltung.


Das ist bequem, löst jedoch kein einziges der genannten Probleme. Das ist einfach, aber es kostet wertvolle Zeit und verkleinert Handlungsspielräume. Und es schwächt unsere Demokratie. Befeuert wird das Ganze gezielt von den Populisten, welche aus der Unzufriedenheit Zuspruch generieren und somit gar kein Interesse daran haben, Probleme zu lösen oder selbst Verantwortung zu übernehmen.


Eigentlich müssten sich in diesen schwierigen Zeiten unsere Parteien vor neuen Mitgliedern kaum retten können. Eigentlich müssten die Menschen bestrebt sein, ihr Glück in die eigenen Hände zu nehmen, sich und ihre Ideen einzubringen, sich Mehrheiten zu suchen und dafür zu streiten. Eigentlich müsste unsere Gesellschaft aktuell eine hoch politische sein – auch wenn das der schwierigere Weg ist. Themen und Probleme gäbe es genug.


Ich wünsche mir, dass sich wieder mehr Menschen aktiv politisch einbringen. Nicht durch Protest oder Festkleben auf der Straße, plumpen Populismus oder schäumendes Wutbürgertum, sondern durch einen engagierten, konstruktiven Diskurs. Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft wieder mehr miteinander diskutieren. Hart in der Sache, aber fair im Umgang – statt zu pöbeln und zu drohen. Und ich wünsche mir, dass wir Wahrheiten nicht nur einfordern, sondern sie auch akzeptieren und die schwierigen Antworten auf die Fragen unserer Zeit annehmen.

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