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Vom „Spazieren gehen“ – oder: aus einem Kuhfladen wird keine Pizza



Frische Luft ist gesund. Und der Drang ins Freie scheint aktuell ja fast ein Mas­sen­phä­no­men zu werden. Den Eindruck könnte man zumindest gewinnen, wenn man sieht, wer wo aktuell alles abend­lich durch un­sere Städte und Dörfer „spaziert“. Dabei muten diese Freiluftaktivitäten zum Teil be­frem­d­lich an: Da wer­den Lautsprecher mitgeführt und Transparente. Schilder werden hoch­ge­halten. Es bilden sich Sprech­­chöre. Es wird sich vermummt. Und immer wieder richten sich die Inhalte gegen eine ver­meint­li­che „Diktatur“, mal mit mehr, mal mit weniger Corona. Vereinzelt fliegen Steine, Flaschen oder Feuerwerks­körper. Irgendwie scheinen diese Men­schen ein seltsames Verständnis davon zu haben, was ein Spa­ziergang ist.


Wenn ich spazieren gehe, habe ich neben meiner Frau höchstens noch den Hund dabei. Wir er­freuen uns an der frischen Luft, gehen gerne dahin, wo es ruhig ist. In all den Jahren habe ich dabei noch kein ein­ziges Mal ein Transparent dabeigehabt oder ein Schild hochgehalten. Ich habe nichts skandiert. Ich habe auch nicht versucht, Absperrungen zu durchbrechen, bin auch sonst niemandem gegenüber aggres­siv geworden. Ich habe auch keine Dritten belästigt oder be­droht, egal ob Journalist:innen, Polizist:innen oder sonst wen. Warum auch?


Lö­sen wir diese vermeintliche Diskrepanz auf und nennen wir das Kind konkret beim Namen: Es sind kei­ne „Spa­ziergänge“. Es sind Demonstrationen! Unangemeldet. Feige. Ohne Verantwortliche. Es ist der Versuch, Auflagen zu umgehen und das Versammlungsrecht zu unterlaufen. Es wird zu verbotenen Demonstrationen mobilisiert und in den sozialen Netz­wer­ken explizit dazu aufgerufen, seine Kinder mitzunehmen. Schließlich gehe man ja nur „spazieren“.


Aber Bezeichnungen allein ändern nichts an Tatsachen: Ein illegales Autorennen bliebe ein solches, auch wenn man es „Ausfahrt“ nennen würde. Es erinnert ein wenig an einen Dialog aus dem Film „Go, Trabi go!“ als der LKW-Fahrer Harry kalauert: „Kennste den: ´N Trabbi landet im Straßengraben. Genau neben ´nem Kuhfladen. Da sagt der Kuhfladen: 'Was bist du denn für einer?' Sagt der Trabbi: 'Ich bin ein Auto.' Da sagt der Kuhfladen?“… Und Hauptdarsteller Udo antwortet: „Wenn du ´n Auto bist, bin ich ´ne Pizza“. So wie aus dem Kuhfladen keine Pizza wird, wird aus einer Demonstration kein Spaziergang – egal, wie man es dreht und wendet.


Wenn auf der Seite der rechtsextremistischen Kleinstpartei Der III. Weg für Montag, den 27. Dezember 2021 bundesweit knapp 1.200 solcher „Spaziergänge“ verzeichnet sind, wenn konkrete Startzeiten und -orte benannt sind, wenn angekündigt wird, sich als „nationalrevolutionäre Bewegung & Partei […] wie­der bun­desweit an den (Montags)-Protesten gegen die Corona-Zwangsmaßnahmen [zu] beteiligen“, dann kann man sich nur schwerlich auf eine „Spontanversammlung“ berufen. Und alle übrigen Versamm­­lun­gen unter freiem Himmel sind nach geltendem Recht 48 Stunden vorher an­zu­mel­den. Dabei ist auch ein:e Versammlungsleiter:in zu benennen. Wer sich dem widersetzt, wer den An­weisungen der Polizei nicht Folge leistet und sich dann beispielsweise nicht von aggressiven und ge­walt­be­rei­ten Teilnehmer:innen fernhält oder gar selbst gewalttätig wird, braucht sich im Nachgang nicht be­schwe­ren, wenn der Staat dem Treiben – möglicherweise auch durch die Anwendung un­mit­tel­baren Zwangs – dann ein Ende bereitet. Das ist allerdings nicht Ausdruck einer Diktatur, sondern das Ergebnis dessen, dass man nicht gewillt ist, sich an die Regeln zu halten, welche eine Gesellschaft erst funktionieren las­sen. Und hier hat man bereits zu lange zugesehen, in der vermeintlichen Hoffnung, diese Gewaltbereiten würden sich schon wieder beruhigen.


Man kann natürlich gegen die Corona-Maßnahmen sein (oder gegen was auch immer). Man hat zweifelsohne das Recht, sich „friedlich und ohne Waffen zu versammeln“. Das sichert das Grundgesetz den Men­schen in un­serem Land zu. Und gerne beziehen sich die „Spaziergänger:innen“ auf den Artikel 8 unserer Ver­fassung, wo weiter steht „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“. Aber man sollte den ganzen Artikel le­­sen. Dort heißt es im zweiten Ab­­satz: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ Und immer wieder haben Gerichte den Grundsatz der Ver­samm­lungs­freiheit stärker gewichtet als gesundheits- oder ordnungspolitische Be­denken. Das zeigt, dass diese Grundrechte auch in Krisenzeiten, auch während einer Pandemie, gewahrt sind.


Frische Luft ist gesund. Und der Drang ins Freie scheint aktuell fast schon ein Mas­sen­phä­no­men zu sein. Den Eindruck soll man zumindest gewinnen. Aber so erschreckend die Zahl an Orten wirken mag – am Ende handelt es sich, wenn man Dopplungen herausrechnet, nur um rund zehn Prozent der Kommunen. Selbst wenn man die Anzahl aller „Spaziergänger:innen“ bundesweit aufaddiert, bleibt es bei der laut­starken Minderheit, welche man aus den sozialen Netzwerken kennt. Nur dass diese nun den Weg in die analoge Welt gefunden haben.


Es mag beeindruckend klingen, wenn allein in Mecklenburg-Vorpommern am Montag rund 15.000 Menschen gegen die Corona-Politik demonstriert