Menschen überwältigen in einem Supermarkt im sächsischen Arnsdorf einen psychisch kranken Flüchtling, schlagen ihn, zerren ihn aus dem Geschäft und fesseln ihn mittels Kabelbinder an einen Baum. Angeblich – so die Aussage gegenüber der Polizei zur Gefahrenabwehr und zur Verhinderung einer Flucht bis zum Eintreffen der Polizei. Das Video, dass aktuell im Internet kursiert, ist erschütternd und schockierend zugleich.
Gleichzeitig wirft das Ganze aber auch eine Reihe von Fragen auf. Grundsätzlich hat gem. § 127 StPO (sog. „Jedermann-Paragraph“) jeder das Recht einen Dritten unter bestimmten Voraussetzungen vorläufig festzunehmen. Hierzu muss dieser Dritte eine strafbare Handlung begehen, auf frischer Tat angetroffen oder verfolgt werden, der Flucht verdächtig sein oder seine Identität kann nicht sofort festgestellt werden. Nun stellt sich die Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind: Wenn man sich das Video in seiner Gänze anschaut, dann stellt man fest, dass der Flüchtling den Anweisungen des Verkaufspersonals nicht nachkommt. Eine aktive Bedrohung durch den Flüchtling kann man jedoch nicht erkennen. Auch macht die Person nicht den Eindruck, dass sie flüchten möchte. Nach meinem Dafürhalten hätte die Situation durch hinzugerufene Polizei geklärt werden können. Stattdessen taucht die sog. „Bürgerwehr“ auf und „klärt“ die Situation.
Deren Verhalten ist inakzeptabel und nicht angemessen. Selbst wenn ich den Jedermann-Paragraphen für mich beanspruche, selbst wenn man davon ausgehen würde, dass die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, so ist das Vorgehen unverhältnismäßig. Eine vorläufige Festnahme stellt grundsätzlich einen gravierenden Eingriff in die Freiheitsrechte eines Menschen dar. Sie kann bereits mündlich erfolgen („Bleiben Sie hier stehen“) oder durch das Festhalten an der Kleidung oder am Körper. Das Anlegen von Fesseln als Mittel des sog. unmittelbaren Zwangs ist nur als letztes Mittel bei einer gravierenden Gefährdung zulässig. Eine solche war in dieser Situation nicht gegeben.
Es handelt sich bei dem Vorfall in meinen Augen somit nicht um das couragierte Eingreifen von Bürgern in einer Notsituation, sondern de facto um eine willkürliche Gewaltausübung durch einen unkontrollierten Mob.
Für mich stellen sich nun folgende Fragen, welche zum Teil deutlich über diesen Vorfall hinausragen:
– Die Mitglieder dieser „Bürgerwehr“ kommen in den Supermarkt und gehen ohne weitere Gespräche mit Dritten auf den Mann los. Dies legt nahe, dass diese „Bürgerwehr“ gezielt gerufen worden ist. Warum ruft man eine „Bürgerwehr“ und nicht die Polizei?
– Nachdem der Flüchtling an den Baum gefesselt worden ist, die Situation somit bereinigt war, war es den gerufenen Streifenbeamten nach Aussage eines Polizeisprechers „…vor Ort nicht möglich, die Personalien in der heiklen Situation aufzunehmen“. Was war zu diesem Zeitpunkt so heikel, dass man die Personalien der „Bürgerwehr“ nicht hat aufnehmen können?
– Sollten die Berichte der Sächischen Zeitung zutreffend sein, handelt es sich bei einem der vier Männer der „Bürgerwehr“ um einen CDU-Stadtrat. Ging bei den – nicht weniger zu verurteilenden – Übergriffen auf Flüchtlinge in Frankfurt an der Oder die Gewalt von Angehörigen einer „rassistischen Trinkerszene“ (SPIEGEL) aus, so handelt es diesmal zumindest in Teilen offensichtlich um honorige Personen aus der Mitte der Gesellschaft. Warum stellen sich diese Menschen über das Gesetz, setzen das staatliche Gewaltmonopol außer Kraft und greifen zum Mittel der Selbstjustiz?
– Sind Vorfälle wie diese nicht Symptome einer immer tiefer um sich greifenden Krise unseres demokratischen Systems?
– Warum haben Menschen, dass subjektive Gefühl einer wachsenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Deprivartion – auch wenn sich dieses in vielen Fällen objektiv nicht bestätigen lässt?
– Wie lässt sich die zunehmende Verrohung eines größer werdenden Anteils unserer Bevölkerung stoppen?
– Welche Rolle spielen dabei die Medien, die Beeinflussbarkeit durch das Internet?
– Wie kann das demokratische System diese Menschen wieder zurückgewinnen?
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